Des bischöflichen Hofnarren Spiegelbrille

Zornig und zwieträchtig waren die Kurfürsten untereinander, so dass nicht ein römischer Kaiser noch König gewählt werden konnte. Endlich wurde der Graf von Supplinburg* von allen Kurfürsten im Jahr des Herrn 1125 zum römischen König gekoren.

Es waren aber auch andere da, die meinthen, sie müssten mit Gewalt ins irdische Reich des Höchsten eindringen. Daher musste sich der neu gekorene König sechs Monate lang vor Frankfurt legen auf militärischen Zulauf wartend, und dann ob ihn jemand von dort hinwegschlüge um sodann, allenthalben durch die Abwehr höllischer Trutz gefestigt, als Kaiser zu der Kirche und des Volks irdischem Schutz durch den Vikar Christi bestätiget zu werden.

Als nun der König endlich soviel Volks zu Ross und Fuße beieinander hatte, überlegte auch Ullenspiegel, was es für ihn dort zu thun gäbe: „Dahin kommen viel fremde Herren, die lassen mich nicht unbeschenket; da ich also in den Kreis ihres Gefolges aufgenommen, so stünd‘ ich gut.“ Und so machte er sich auf den Weg dorthin. Auch Herren aus allen Landen zogen heran, und so begab es sich in der Wetterau bei Friedberg, dass auch der Bischof von Trier mit seinem Gefolge auf dem Weg nach Frankfurt Ullenspiegel begegnete. Weil dieser aber höchst seltsam gekleidet, frug ihn der Bischof, was für ein Geselle er sei.

Ullenspiegel antwortete: »Gnädiger Herr, ich bin ein Brillenmacher und komme aus Brabant. Aber da ist nichts für mich zu tun; d’rum wand’re ich nach Arbeit. Aber auch allgemein steht es mit unserm Handwerk schlecht.«

Der Bischof sprach: »Ich glaubte, mit deinem Handwerk müsst’s Tags zu Tag besser werden. Die Leute werden doch Tags zu Tag kränker und sehen immer schlechter, weshalb man doch vieler Brillen bedarf.«

Ullenspiegel antwortete dem Bischof und sagte: »Ja, gnädiger Herr, Euer Gnaden sprechen wahr, aber es gibt da eine Sache, die unserm Handwerk gar verderblich ist.«

Der Bischof fragte: »Was sollte das denn sein?«

Ullenspiegel sprach: »Darf ich’s wagen zu sagen, ohne auf dass Euer Gnaden mir darob zürnen?« »Ja«, sagte der Bischof, sich des Schelms erinnernd, »wir sind solches wohl gewohnt von dir und deinesgleichen. Sag’s nur frei heraus und scheue nichts!«

»Gnädiger Herr, dieses ist’s, was das Brillenmacher-Handwerk verdirbt, und es ist zu befürchten, dass es noch völlig ausstirbt: dass Ihr und andere große Herren, Papst, Kardinal, Bischof, Kaiser, König, Fürst, Rat, Regierer und Richter der Städte und Länder - Gott erbarm’s - zu dieser Zeit „durch die Finger sehen„, was recht ist, und dieses nur um des Geldes und der Gaben willen. Aber suchet man, so findet man geschrieben, dass vor längst vergess’nen Zeiten die Herren und Fürsten, soviel es ihrer gab, in den alten Rechtsbüchern zu lesen und zu studieren pflegten, auf dass gar niemandem ein Unrecht geschehe. Dazu aber brauchten sie gar viele Brillen, und dazumal ging es unserm Handwerke gut. Auch studierten die Pfaffen damals mehr als jetzt, weil sie alles abschreiben mussten, was sie lernen sollten; so gingen die Brillen weg wie warmes Brod. Jetzt aber sind sie so gelehrt geworden von den Büchern, die sie für Geld kaufen, dass sie meinen schon durch den Besitz des Buches auswendig zu können alles, was sie für ihre eigenen Verhältnisse brauchen. Diese ihre Bücher aber schlagen sie in vier Wochen nicht mehr als einmal auf. Darin liegt der Grund, warum unser Handwerk verdorben ist, und ich laufe aus einem Land in das andere und kann nirgendwo Arbeit finden. Zu allem Verhängnis ist der Niedergang allsoweit verbreitet, dass solches die Bauern auf dem Lande auch schon zu thun pflegen und „durch die Finger sehen„.«

Der Bischof verstand den Text ohne Glosse und sprach zu Ullenspiegel: »Folge Uns nach Frankfurt, Wir wollen dir Unser Wappen und Unsere Kleidung geben.«

Dies tat Ullenspiegel, und er blieb bei seinem Herrn solange, bis der Graf im Jahr des Herrn 1133 als Kaiser bestätiget war, danach zog es ihn wieder zurück nach Sachsen.

Der Reichshofnarr v. Gottes Gnaden

PH - 2020-07-06

* 》 https://de.m.wikipedia.org/wiki/Lothar_III._(HRR)


HINWEISE

Sie können diesen Artikel unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-ND 3.0 frei vervielfältigen unter den vier Bedingungen…

  1. …den Text nicht zu verändern,
  2. die Quelle anzuführen,
  3. den Text nicht für kommerzielle Zwecke zu nutzen,
  4. keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einzusetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Dieser Artikel wurde erstmals veröffentlicht am 17. Juli 2020 auf www.intrinsis.de unter Des-bischoeflichen-Hofnarren-Spiegelbrille-intrinsis.de.html

PH - 2020-07-06

© intrinsis.de | Paul M. Heliosch.TXT.Des bischöflichen Hofnarren Spiegelbrille | doc-ID.net3.202007060957cci