Naturrecht: Handlungspflicht nach Priorität

Begründung von Handlungs- und Unterlassungspflichten nach Prioritäten, ausgehend von zwei Beispielsituationen zum Begriff der Doppelwirkung nach der Naturrechtsethik des Aristoteles.

In der klassischen Naturrechtsethik nach Aristoteles greift der Begriff der doppelten Wirkung immer dann, wenn eine Handlung zwei Wirkungen hat, wenn nämlich die positive Wirkung nicht ohne negative Begleitwirkung möglich ist.

Passiv/Aktiv - Situation 1

  • Jemand lässt eine Person ertrinken (passives Nichttun = Unterlassung), obwohl er in der Lage wäre zu helfen.
  • Jemand stösst eine Person ins Wasser (aktives Tun = Handlung), in Kenntnis, dass jener nicht schwimmen kann.

Situation 1 verdeutlicht die Notwendigkeit der Differenzierung, zum einen zwischen (aktivem) Tun (Handlung) und (passivem) Nichttun (Unterlassung) und zum anderen zwischen Beabsichtigen und in Kauf nehmen [1].

Aus dieser Unterscheidung folgt jedoch noch nicht zwingend die Antwort auf die Frage, welche Entscheidung geboten ist, denn man kann durch Unterlassung ebenso Schaden anrichten, wie durch Handlung.

Würde nur die Wirkung eines Tuns oder Nichttuns ohne dahinterstehende Absicht in Betracht gezogen, machte es keinen Unterschied, auf welche Weise jemand eine Person ertrinken lässt. Ob jemand Nichtschwimmer ist und daher nichts tun kann oder ob jemand einen Nichtschwimmer ins Wasser stösst, spielte dann keine Rolle: das Ergebnis wäre in jedem Fall dasselbe. Jedem Handeln muss also intrinsisch eine Absicht vorausgehen und es begleiten.

PFLICHT UND PRIORITÄT

Die beiden zentralen Aspekte für die Entscheidung zu einer aktiven oder passiven Handlung sind die PFLICHT zur Handlung (oder Unterlassung) nach PRIORITÄT.

Die Pflicht

Die Pflicht zur Unterlassung bzw. Unterlassungspflicht ergibt sich aus der Pflicht zur Handlung bzw. Handlungspflicht und ist definiert, wie folgt:

  • Es muss eine Verpflichtung zur Handlung geben, damit man von einer Unterlassung reden kann.
  • Um eine Unterlassung handelt es sich genau dann, wenn es etwas gibt, das gesollt ist.

Daraus folgt: Nur nichts zu tun, ohne, dass etwas gesollt ist, ist eben noch nicht Unterlassung.

Der Pflichtumfang

Bestimmte Unterlassungspflichten sind von jedem Menschen gefordert, die meisten* Handlungspflichten hingegen setzen ein Können voraus.

Bekannte Unterlassungspflichten sind u. a. dadurch bestimmt, sich selbst und anderen Menschen nicht zu schaden. Nicht zu stehlen, nicht zu lügen, nicht zu töten, die Ehefrau des anderen in Ruhe zu lassen, usw. sind Unterlassungspflichten zum Zweck der Befriedung einer Gemeinschaft, die jeder einhalten kann! Von daher ist es trivial, dass diese Unterlassungspflichten für jeden Menschen, also universell gültig sind und Verstösse zu ahnden sind.

Pflicht - Zusammenfassung

Der Unterscheidung von Handeln und Unterlassen liegen Pflichten zugrunde, Pflichten zur Handlung und Pflichten zur Unterlassung: Handlungspflichten und Unterlassungspflichten. Die Pflicht einen Ertrinkenden zu retten ergibt sich aus der Voraussetzung, dass man zur Rettung in der Lage ist, - dass man es kann! Daraus folgt: Einen Ertrinkenden nicht zu retten, obgleich man es könnte, ist verwerflich, also strafbewehrt.

Passiv/Aktiv - Situation 2

Ein Arzt verabreicht einer im Sterben liegenden Person eine kritische hohe Menge an Morphium zur Schmerzstillung mit der negativen Folge, dass die Person sehr wahrscheinlich früher stirbt.

In dieser Situation hat ein Arzt die Handlungspflicht, das Leiden des Patienten zu mindern, ohne seine Unterlassungspflicht, nämlich den Tod des Patienten herbeizuführen, zu verletzen.

Das Leiden des Sterbenden zu mindern, lässt sich im vorliegenden Fall zwar nicht anders als durch Gabe einer kritisch hohen Menge an Morphium realisieren unter Inkaufnahme, dass das Leben des Patienten hierdurch mit höchster Wahrscheinlichkeit verkürzt wird, jedoch ist dies vertretbar, solange dies nicht beabsichtigt ist. Der Arzt sieht zwar voraus, dass die Verabreichung dieser Menge an Morphium das Leben des Patienten verkürzt, aber es ist nicht seine Absicht ihn zu töten.

Die Priorität

Die Priorität einer höheren Instanz im Hinblick auf einen höheren Zweck

Es können Umstände eintreten, in denen ein Arzt verpflichtet ist, keine lebensverkürzenden Schmerzstiller zu verabreichen, nämlich dann, wenn der Arzt seine Absicht auf die Priorität einer höheren Instanz im Hinblick auf einen höheren Zweck auszurichten gehalten ist. Würde er eigenen Prioritäten im Hinblick auf niedere Zwecke folgen, wäre dies wiederum verwerflich und damit strafbewehrt.

Ein Beispiel

In einer absoluten Monarchie liegt der Herrscher im Sterben und es liegt seinerseits die Entscheidung in einer wichtigen, mutmasslich das Volk schützenden Sache an. Er wartet hierzu stündlich auf eine Nachricht, die ihm das entscheidende Argument liefern wird. Wenn in dieser Situation sein Leibarzt eine kritisch hohe Menge an Morphium verabreichte, erhöhte sich hierdurch die Wahrscheinlichkeit, dass der König die Entscheidung nicht mehr rechtzeitig vor seinem Tode treffen kann.

Hier ist der Arzt gehalten, seine Absicht auf die Priorität einer höheren Instanz im Hinblick auf einen höheren Zweck auszurichten, wie folgt:

  1. Priorität höherer Instanz / Absicht: Das Volk schützen!
  2. Priorität höherer Instanz / Absicht: Die königliche Entscheidung ermöglichen!
  3. Priorität höherer Instanz / Absicht: Das Leben des Königs erhalten!

Der Arzt hat also in diesem Fall die Handlungspflicht, es bei den Leiden des sterbenden Patienten ohne Morphiumgabe zu belassen, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass der königliche Patient seinerseits die Entscheidung treffen kann und zwar ebenfalls aufgrund der höher instanzlichen Priorität im Hinblick auf einen höheren Zweck.

Gesetzt den Fall seine königliche Gattin hätte die Absicht diese Entscheidung zum Schutze seines Volkes zu verhindern und bewegte den Arzt zur Morphiumgabe, so folgte dieser einer niedriger instanzlichen Priorität (Königin) im Hinblick auf einen niederen Zweck (geringerer Schutz für das Volk). Auch die Königin folgte einer niedriger instanzlichen Priorität, nämlich im Verhältnis zum König ihrer eigenen, und dies ebenfalls im Hinblick auf einen niederen Zweck. Die Entscheidung beider ist also verwerflich, mithin strafbewehrt.

Pflicht nach Priorität - Zusammenfassung

1. Jedem Handeln geht intrinsisch eine Absicht voraus und begleitet es.

2. Der Unterscheidung von Handeln und Unterlassen liegen Handlungspflichten und Unterlassungspflichten zugrunde.

3. Handlungspflichten setzen voraus, dass man zur Handlung in der Lage ist!

4. In der Handlungs- und Unterlassungsentscheidung müssen die Prioritäten der höheren Instanz im Hinblick auf einen höheren Zweck berücksichtigt sein.

Objektivierbarkeit

Natürlich ist Absicht von aussen schwer objektivierbar, aber das ist ein juristisches Problem, kein intrinsisches, denn für den Arzt selbst ist klar objektivierbar, dass es verwerflich ist, wenn er zum Beispiel Morphium gibt in der Absicht, das Leben des Patienten zu verkürzen oder um eine fällige Entscheidung seines Patienten mit höher instanzlicher Priorität im Hinblick auf einen höheren Zweck zu verhindern, auch dann, wenn dies Dritte nicht mitbekommen. Aber auch für den König selbst ist klar objektivierbar, dass es verwerflich ist, wenn er sich Morphium spritzen lässt in der Absicht, sein Leiden zu lindern wenn er nämlich hierdurch Schaden für sein Volk riskiert, auch dann, wenn dies Dritte nicht mitbekommen.

Verwerflichkeit, Schuld und Strafe

Ob ein Arzt, ein König, ein Anwalt oder andere Entscheider, ob Du oder ich, ob Agnostiker, Philosophen, Katholiken, Protestanten, Muslime oder Atheisten an die Verwerflichkeit von Entscheidungen und an die sich daraus ergebende Schuld und damit verbundene Strafbewehrung glauben oder nicht, ist eigentlich irrelevant, denn wir alle zusammen bleiben stets an bestimmte, universell gültige Handlungs- und Unterlassungspflichten gebunden. Verstossen wir gegen sie, so bleibt dies niemals ohne negative Folgen. Diese bezeichnet man mit dem Begriff Schuld, wenngleich in vielen Fällen die Schuld nicht augenscheinlicher Art ist. Mithin gilt es den Grundsatz zu verinnerlichen: weder Verborgenheit noch Unwissenheit schützen vor Ahndung, denn Ahndung ist der notwendig sich früher oder später einstellende Ausgleich von Schuld - vergleichbar mit dem Sog in der Physik zum Ausgleich eines Vakuums.

Literatur

Einige universelle Handlungs- und Unterlassungspflichten sind unter dem Fachbegriff Dekalog in der einschlägigen Literatur [2] verfügbar. Ergänzend zu empfehlen sind die Werke der scholastischen Philosophie von Thomas von Aquin, die vom Verlag Editiones Scholasticae angeboten werden. [3].

Absicht dieses Artikels

Dieser Artikel soll aufzeigen, dass es nicht den geringsten Grund gibt, die scholastische Philosophie Thomas von Aquins und die Naturrechtsethik des (noch viel älteren) Aristoteles zu ignorieren.

PH

[1] http://scholastiker.blogspot.de/2016/12/einwande-gegen-die-theorie-der.html

[2] http://www.sarto.de/product_info.php?info=p128_Katechismus-der-katholischen-Lehre.html

[3] Editiones Scholasticae > https://www.editiones-scholasticae.de/titeluebersicht/

*Beispiele für von allen Menschen geforderte Handlungspflichten: Die Zusammenfassung des Dekalogs nach MT 22,37; diese besteht in Handlungspflichten, denen jeder Mensch nachkommen kann.


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Dieser Artikel wurde erstmals veröffentlicht am 14. Juni 2017 auf www.intrinsis.de unter ../START.html/2017/06/14/aristotelisches-naturrecht-handlungspflicht-nach-prioritaet/

PH - 2016-12-14

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