Eindeutigkeit als Quelle für europäische Innovation im Mittelalter

Auszug aus dem Jahresbericht „Marsilius-Kolleg 2011/2012“ Universität Heidelberg - Zukunft seit 1386, von Stefan Weinfurter:

„… 1. Eindeutigkeit Und Unbestimmtheit

Unsere Gegenwart hat Probleme mit der Eindeutigkeit. Nicht nur, dass wir uns dadurch gegängelt fühlen, noch viel mehr schlägt zu Buche, dass uns Eindeutigkeit als eine gefährliche Komponente der Abgrenzung erscheint. Sie schafft für unser Empfinden Gegensätze, vor allem gegenüber anderen Lebensbereichen, Kulturen, Traditionen, Sprachen, Fachbegriffen, Religionen, Rechtskreisen und so fort.

Seit Jahren schon wird in gelehrten Zirkeln darüber debattiert, inwieweit wir mit unserem wissenschaftlichen Vokabular, das wir doch „eindeutig“ definiert zu haben vermeinen, zu sehr in „eurozentrische“ Denkkategorien eingebunden sind und Gefahr laufen, uns damit gegenüber der Vielfalt anderer Welten abzuriegeln. Eurozentrische Eindeutigkeit wird damit zum Kennzeichen von Rückständigkeit. Unsere Kategorien des dialektischen Denkens, der Präzisierung unserer Begriffe und ihrer Inhalte, ihre möglichst eindeutige Verwendbarkeit scheinen sich wie Nebel aufzulösen.

Schon ein Begriff wie „Religion“ verursachte auf dem internationalen Kongress der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft vom 20. bis zum 24. september 2009 in Bochum nicht geringe Probleme. Unter dem Thema „Religionsgeschichte als dynamisches Gebilde“ ging es um die religiösen Traditionsgeflechte, bei denen sich die sogenannten Weltreligionen und weitere religiöse Traditionen im wechselseitigen, diachronen und synchronen Kontakt miteinander konstituieren, ausbreiten und weiterentwickeln. Daher sei schon der Begriff „Religion“ irreführend, weil er fest abgegrenzte, gar eindeutige Normenfelder suggeriere. Er sollte durch einen anderen, unbestimmteren Ausdruck ersetzt werden. Öffnet „Unbestimmtheit“ die erforderlichen neuen Horizonte der Verständigung?

2. „EINDEUTIGKEIT“ im Austausch der Disziplinen

Die Fellowklasse des Jahres 2011/2012 war in verschiedener Weise mit dem Problem der „Eindeutigkeit“ befasst. Bei der Frage etwa, nach welchen Kriterien Patienten für Lebertransplantationen zu bestimmen sind, bildete stets das Abwägen und Ringen zwischen juristischer Eindeutigkeit und individuellen Gegebenheiten und Voraussetzungen sowie eindeutiger Transparenz der Entscheidungsabläufe einen ganz wesentlichen Aspekt. Neben den rechtlichen und medizinischen Komponenten steht für dieses Thema vor allem die ethische Frage im Mittelpunkt.

Auch Ethik verlangt bestimmte Werte, zu denen man sich „eindeutig“ bekennt, wenn sie Gültigkeit beanspruchen sollen.

Dass Menschen ganz grundsätzlich nach Kohärenz in ihrem Ordnungsgefüge streben, was nichts anderes heißt, als dass das Verlangen nach Eindeutigkeit als ein Grundmuster menschlichen Verhaltens anzusehen ist, kam bei anderen Forschungsprojekten zur Sprache. Auch das in der Literaturwissenschaft vorgestellte literarische Gestaltungsmittel des „unzuverlässigen Erzählens“ brachte für die „Eindeutigkeit“ neue Aufschlüsse:

die gezielte Destruktion des Zuverlässigen schärft den Blick auch für die Bedingtheit des scheinbar Eindeutigen.

3. „Eindeutigkeit“ Und Wahrheit

Der Mittelalterforscher, der auf die eintausend Jahre von etwa 500 bis 1500 blickt, kann zu dieser Diskussion manches beitragen. Er kann zeigen, dass es in der europäischen Geschichte Epochen gab, die durch ein besonders starkes Eindeutigkeitsstreben gekennzeichnet sind.

Ein geradezu programmatischer Satz in diesem Sinne wurde von Papst Gregor VII. (1073-1085) formuliert. Christus hat nicht gesagt, „ich bin die Gewohnheit“, sondern „…ich bin …die Wahrheit…“. Damit geht alle Eindeutigkeit von Jesus Christus aus. Mit diesem Satz brachte Papst Gregor VII. das Programm der Neuausrichtung der westchristlichen Welt auf den Punkt, und dieses lautete: die gesamte christliche Welt wird mit verbindlichen Wertenormen beliefert, welche die Wahrheit sind.

Im Gegensatz dazu stand die Gewohnheit, die das mittelalterliche Leben zwar in hohem Maße bestimmte, aber für Gregor VII. als diffus und unpräzise galt. Vor allem musste sie immer wieder neu bestimmt werden. Wahrheit dagegen erschien ihm als eindeutig und dauerhaft. Heute würde man sagen: nachhaltig.

Aber was ist die Wahrheit und wie kann sie bestimmt werden?

Damit hat sich zum ersten Mal der Theologe und Gelehrte Anselm von Canterbury beschäftigt. Zwischen 1082 und 1085 verfasste er sein Lehrbuch „Über die Wahrheit“ („De veritate“). „Ich kann mich nicht erinnern, bislang (bei meinen Studien) eine Definition der Wahrheit gefunden zu haben“, mit diesen Worten beginnt er sein Werk. „Aber“, so spricht er zu seinem Schüler, „wenn du Verlangen danach hast, dann wollen wir durch die verschiedenen Gegenstände, von denen wir sagen, dass in ihnen Wahrheit ist, untersuchen, was die Wahrheit sei.“[1]

Anselm von Canterbury will die Wahrheit definieren. er spricht von „definitio“ und „definire“. Diese Begriffe bedeuten: gegenüber anderen Dingen abgrenzen und exakt bestimmen.

Die Definition der Wahrheit stellt sich freilich als ein schwieriges und komplexes Unterfangen heraus, bei dem allein der Verstand den Weg zum Ziel aufzeigen kann: „sola mente“, so versichert der Lehrer, „allein durch den menschlichen Geist“ könne man die Wahrheit erkennen. Die Wahrheit sei nämlich die allein mit dem Geist erfassbare Rechtheit.[2]

Rechtheit wiederum verlange die Übereinstimmung mit dem Guten und mit der Gerechtigkeit.[3] Auf diese Weise würden sich Wahrheit und Rechtheit und Gerechtigkeit gegenseitig definieren: „invicem sese definiunt veritas et rectitudo et iustitia“. „Wer die eine kenne, werde dadurch auch zum Wissen der anderen gelangen“, denn es gebe keine Gerechtigkeit, die nicht Rechtheit sei.[4]

Auch wenn es unzählige Gegenstände und Umstände gäbe, in denen jeweils eine eigene Wahrheit zu sein scheint, gäbe es letztlich doch nur eine einzige Wahrheit: „Una igitur est in illis omnibus veritas.“[5] Die Folgen dieser Vorgänge und Reflexionen waren ebenso vielfältig wie umwälzend für die gesamte Kultur im westlichen Europa.

Mit der Forderung nach Eindeutigkeit der Normen, der Regeln und der Ordnungsvorgaben begann sich nicht nur der Entscheidungsprimat des universalen Papsttums zu etablieren, sondern es kam auch ein wissenschaftlicher Klärungsprozess im Hinblick auf die Vielfalt der Rechtsüberlieferung in Gang.

Das kanonische Recht wurde in sich „stimmig“ und das heißt wiederum: „möglichst ‚eindeutig‘ und kohärent“ gemacht und im Decretum Gratiani 1140 erstmals mit dieser Zielsetzung zusammengefasst.

Doch es ging um noch mehr: um die Wahrheit zu erkennen, wurde die dialektische Methode in virtuoser Weise zur Anwendung gebracht. Damit war die Basis für die Herausbildung einer wissenschaftlichen Methode und die Entstehung der Universitäten im 12. Jahrhundert gelegt. Keine andere Kultur hat Universitäten hervorgebracht, vielmehr war es das Streben nach Eindeutigkeit und Wahrheit im späten 11. und im 12. Jahrhundert, das die Gemeinschaft der Magister und Scholaren schuf. Die Prinzipien unserer Wissenschaften bis in die moderne Zeit hinein gehen auf diese Vorgänge im Mittelalter zurück.

„Eindeutigkeit“ des Denkens, Sprechens und Schreibens

Einen vergleichbaren „Vereindeutigungsschub“ gab es in Europa schon einmal, und zwar etwa 300 Jahre früher, in der Zeit Karls des Großen (768-814). In seiner Zeit wurde im Karolingerreich ein überaus ambitioniertes Programm durchgesetzt: die Generierung von Eindeutigkeit in Sprache, Text und Schrift.

Dahinter standen Fragen wie:

  • Was bedeutet ein Wort?
  • Was bedeutet ein Schriftzeichen?
  • Was wird durch ein bestimmtes rituelles Verhalten bewirkt?
  • Auch die Frage: Darf Mehrdeutigkeit überhaupt Grundlage gesellschaftlicher Ordnung sein?

Planmäßig wurden infolgedessen die Bildungszentren des karolingischen Reichs gefördert, nämlich die Domschulen und Klöster (wozu auch das Kloster Lorsch an der Bergstraße zählte).

In allgemeinen Verlautbarungen erklärte Karl der Große selbst die Dimension seines Vorhabens: Die christliche Lebensordnung verlange genaue Kenntnis der heiligen Schriften und erfordere ebenso die präzise Anwendung der Gebote und Normen. Voraussetzung dafür sei es, dass die Menschen überhaupt mit Worten und Sprache umgehen könnten. In der „Verordnung über die Pflege der Wissenschaften“ (Epistola de litteris colendis) von ca. 787 heißt es dementsprechend:

„Geschrieben ist nämlich: ‚entweder wirst du durch deine Worte gerecht oder durch deine Worte verdammt'“. „Owohl es nämlich besser ist, Gutes zu tun als zu wissen, muss man dennoch vorher wissen (was gut ist), bevor man es tut.“

Und in einer weiteren „Allgemeinen Verordnung“ etwa aus derselben Zeit (Epistola generalis) heißt es:

„Deshalb, weil es zu unserer Sorgepflicht gehört, dass der Zustand unserer Kirchen stets zum Besseren voranschreitet, trachten wir danach, die durch die Trägheit unserer Vorfahren beinahe in Vergessenheit geratene Schule (officina) mit eifrigem Studium der schriften wiederherzustellen; und zu den gründlich zu erforschenden Studien der freien Künste laden wir durch unser eigenes Vorbild all die, die wir erreichen können, ein. Neben anderem haben wir bereits sämtliche Bücher des Alten und des neuen Testaments, die durch die Unkenntnis der Schreiber verderbt waren, mit Hilfe Gottes in jeder Hinsicht exakt nach der Richtschnur (examussim) korrigiert.“

Als Oberbegriff für das Anliegen wurde die Formel „norma rectitudinis“ verwendet. Die „Richtigkeit“ oder „Rechtheit“, also die Summe der guten und richtigen Werte sowie des guten und richtigen Verhaltens, sollte mit einer „Norm“ versehen werden, einer klaren Richtschnur. Man könnte daher „norma rectitudinis“ übersetzen mit „Eindeutigkeit der Rechtheit“ Damit war ein Bildungsprogramm größten Ausmaßes in Gang gesetzt worden.

Die berühmtesten Gelehrten aus ganz Westeuropa wurden zu diesem Zweck an den Hof Karls geholt. Die begriffliche Korrektheit übte man an klassischen Texten ein, die zu diesem Zweck abgeschrieben wurden. Etwa 90 Prozent aller antiken Texte sind uns nur deshalb überliefert, weil sie in dieser Zeit zu tausenden abgeschrieben wurden, und zwar nicht mehr auf brüchigem Papyrus, sondern auf dauerhaftem „sozusagen nachhaltigem“ Pergament. Dann emendierte man verderbte Texte (emendatio), um auf diese Weise höchstmögliche Verbindlichkeit zu erreichen.

Schließlich entwickelte man eine eindeutige Schrift, die karolingische Minuskel, bei der es so gut wie keine Buchstaben- und Wortligaturen mehr gab, bei der jeder Buchstabe durch Ober- oder Unterlänge oder Mittelposition „eindeutig“ war und mit der man damit begann, die Wörter nicht mehr einfach aneinander zu schreiben, sondern zu trennen: so entstand die sogenannte „lateinische Schrift“, die eigentlich „karolingische Schrift“ heißen müsste und die so effizient war, dass wir sie heute noch verwenden.

Aber auch die Gesetze, die Karl der Große erließ (meist in Form von „Kapitularien“) und die geradezu in eine sakrale Aura gestellt wurden (wie die Lex Salica), strebten Einheitlichkeit und Eindeutigkeit an als Grundlagen für die Stabilität der politischen Ordnung und die Autorität des Herrschers.

5. der Verlust deR „Eindeutigkeit“

Man könnte in diese Reihe von Perioden auch noch die Zeit des Humanismus einfügen. Damit wäre eine weitere Epoche angesprochen, die ein hohes Maß an Eindeutigkeit in die gesamte kulturelle, wissenschaftliche und gesellschaftliche Ordnung eingebracht hat. solche Phasen wurden jedoch immer wieder abgelöst durch Zeiten, die von dem Vorrang der Mehrdeutigkeit der Zeichen und der Regelsysteme gekennzeichnet sind.

Unsere heutige Zeit scheint, wie eingangs erwähnt, zu diesen Epochen der „Unbestimmtheit“ zu zählen. Publikationen wie „Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit“ (Zygmunt Baumann), „Die Postmoderne. Abschied von der Eindeutigkeit“ (Ron Kubsch) oder „Der Verlust der Eindeutigkeit. Annäherung an Individuum und Gesellschaft“ (Susanne Fuchs) und viele andere thematisieren diesen Prozess.

Ist streben nach „Eindeutigkeit“ kein Signum unserer Zeit mehr oder haben sich die Ebenen der „Eindeutigkeit“ verändert? Immerhin definiert sich Wissenschaft selbst nach wie vor aus dem Streben nach Eindeutigkeit heraus. …“

Stefan Weinfurter (+2018)

Der Artikel von Stefan Weinfurter ist als PDF zuerst erschienen auf www.marsilius-kolleg.uni-heidelberg-de unter (Downloadlink) http://www.marsilius-kolleg.uni-heidelberg.de/md/einrichtungen/mk/publikationen/mk_jb_22_eindeutigkeit.pdf | Backup .PDF

Lesen Sie sein Buch über „Eindeutigkeit, Wissenstransfer und Bildungsoffensive im Reich Karls des Großen“, erhältlich unter dem Titel „Karl der Grosse“ Piper-Verlag ISBN 978-3-492-96384-8 - hier eine Eigenrezension >>> „Das Streben nach Eindeutigkeit als Leitmotiv eines ungewöhnlichen Herrschers

Veröffentlichungen von Stefan Weinfurter auf regesta-imperii.de

[1] Anselm von Canterbury: De veritate, cap. 1.
[2] ebd., cap. 11: veritas est rectitudo mente sola perceptibilis.
[3] ebd., cap. 12.
[4] ebd., cap. 12.
[5] ebd., cap. 13.„ Eindeutigkeit“ als Quelle für Innovation im Mittelalter, Stefan Weinfurter

PH - 2016-08-26


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Dieser Artikel wurde veröffentlicht am 24. April 2018 auf www.intrinsis.de unter ../START.html/2018/04/24/eindeutigkeit-als-quelle-fuer-europaeische-innovation-im-mittelalter/

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