„… Die reformatio - diejenige, die
allezeit nötig ist - besteht nicht darin, daß wir uns „unsere“ Kirche
immer von neuem so zurechtmodellieren können, wie sie uns besser
gefällt, daß wir sie erfinden können,
sondern darin, daß wir immer wieder neu unsere eigenen
Hilfskonstruktionen wegkehren zugunsten des reinsten Lichts, das von
oben kommt und das zugleich der Einbruch der reinen Freiheit ist.
Laßt mich mit einem Bild sagen, was ich meine. Es ist
ein Bild, das ich bei Michelangelo gefunden habe, der dabei seinerseits
alte Gedanken der christlichen Mystik und Philosophie aufnimmt. Mit dem
Blick des Künstlers sah Michelangelo schon im Stein, der sich vor ihm
befand, das ihn leitende Bild, das verborgen wartete, befreit und ans
Licht gebracht zu werden. Die Aufgabe des Künstlers war für ihn nur
wegzunehmen, was noch das Bild verdeckte. Michelangelo begriff das echt
künstlerische Tun als ein Ans-Licht-Bringen, ein
Wieder-in-Freiheit-Setzen, nicht als ein Machen.
Dieselbe Vorstellung, jedoch auf den
anthropologischen Bereich angewandt, findet sich bereits beim heiligen
Bonaventura, der den Weg erklärt, auf welchem der Mensch echt er selbst
wird, indem er vom Vergleich mit dem Bildschnitzer ausgeht, also mit dem
Bildhauer. Der Bildhauer macht nicht etwas, sagt der große
franziskanische Theologe. Vielmehr ist sein Werk eine ablatio: Es
besteht im Beseitigen, im Wegnehmen dessen, was unecht ist.
Auf diese Weise, auf dem Weg der ablatio,
tritt die nobilis forma zutage, die kostbare Gestalt. So muß auch der
Mensch, damit das Bild Gottes in ihm widerscheine, vor allem und zuerst
jene Reinigung empfangen, mittels welcher der Bildhauer, also Gott, ihn
von all jenen Schlacken befreit, die das echte Erscheinungsbild seines
Seins verdunkeln, indem sie ihn nur als einen rohen Block von Stein
erscheinen lassen, während doch die göttliche Gestalt in ihm wohnt.
Wenn wir es recht verstehen, können wir in diesem
Bild auch das Leitmodell für die kirchliche Reform finden. Gewiß wird
die Kirche stets neuer menschlicher Stützbauten bedürfen, um in jeder
geschichtlichen Epoche reden und handeln zu können. Solche kirchlichen
Einrichtungen samt ihrer rechtlichen Ausgestaltung sind weit entfernt,
etwas Schlechtes zu sein, im Gegenteil, in einem gewissen Maß sind sie
einfach nötig und unverzichtbar.
Aber sie veralten, sie drohen, sich als das
Wesentlichere auszugeben und lenken so den Blick weg von dem, was das
wirklich Wesentliche ist. Darum müssen sie immer wieder abgetragen
werden, wie überflüssig gewordene Gerüste. Reform ist immer von neuem
ablatio: ein Wegnehmen, damit die nobilis forma sichtbar werde, das
Antlitz der Braut, und mit ihm zugleich das Antlitz des Bräutigams
selbst, der lebendige Herr. …“ [1]
Eine Rezeption zu diesem Zitat finden Sie unter dem Titel „Das Ergebnis der ecclesia semper reformanda“ hier: Das-Ergebnis-der-ECCLESIA-SEMPER-REFORMANDA-intrinsis.de.html
PH - 2019-07-01
[1] Zitat von Joseph Ratzinger in seinem auf italienisch gehaltenen Vortrag „Una Compagnia sempre riformanda“ im Jahre 1990 beim Treffen der Ciellini in Rimini, sein Vortrag (ital.) auf Youtube https://www.youtube.com/watch?v=DAfBfpOSIok | Download .PDFHINWEISE
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Dieser Artikel wurde erstmals veröffentlicht am 1. Juli 2019 auf www.intrinsis.de unter ../START.html/2019/07/01/ecclesia-semper-reformanda/
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