Glauben oder Wissen

„…Der Plan, wissenschaftlich Glaube und Wissen in Harmonie zu bringen und auf Grund dieser Einheit Philosophie und Theologie, Natur und Übernatur, Staat und Kirche theoretisch und praktisch zu einigen, trug etwas Gewaltiges und Kühnes an sich. Aber der Kühnheit des Planes entsprach die Größe der Schwierigkeit des zu lösenden Problems. Und hier gehen die Lösungsversuche auch der größten Scholastiker des 13. Jahrhunderts oft bedeutend auseinander. Das 13. Säkulum ist seinen erzielten Resultaten nach weniger homogen, als viele sich vorstellen. Sein synthetisch von oben herab konstruierendes Streben ließ es oft genug an der soliden, analysierenden, von unten aufbauenden Kleinarbeit fehlen. Es trägt mannigfach den Charakter des Überstürzten, Unverdauten und Unbeherrschten an sich. Das sollte sich später rächen und hat sich faktisch gerächt. Manche Keime der Krise des 14. Jahrhunderts trug schon das dreizehnte in seinem Schoße und sie sollten rasch genug ausreifen. Dazu rechnen wir an erster Stelle die verschiedenen, teilweise unhaltbaren und verworrenen Auffassungen des Verhältnisses von Glaube und Wissen.

Eine christliche Weltanschauung, wie das 13. Jahrhundert sie tatsächlich anstrebte, mußte wissenschaftlich drei Forderungen stellen:

  1. Wahrung des von der Kirche überwachten christlichen Glaubens;
  2. Wahrung der Rechte der Menschenvernunft;
  3. die harmonische Unterordnung des Einen unter das Andere bei Wahrung der
    begründeten Rechtsansprüche beider.

Die Lösung dieses Problems war keine leichte Sache. Wer einseitig und ausschließlich nur die Rechte des Glaubens betonte, verfiel rettungslos dem Fideismus und Traditionalismus, weil er die Möglichkeit jedes natürlichen und daher philosophischen Wissens untergrub.

Nun wissen wir, daß der Satz: „aus sich und ohne Voraussetzung des Glaubens kann die Vernunft nichts erkennen“, nicht allein von Skotus Erigena aufgestellt wurde sondern auch dem 13. Jahrhundert nicht ganz fremd war. So hielt Raimundus Lullus (1235-1315) ohne den Glauben jede Gotteserkenntnis für unmöglich. Zuweilen wurde auch der Ausspruch des Propheten : „nisi credideritis, non intelligetis“ in diesem Sinne interpretiert.

Da die Platoniker des 13. Jahrhunderts die ersten und höchsten philosophischen Erkenntnisse, ähnlich dem Glauben, auf eine göttliche illuminatio zurückführten, war die Selbständigkeit der Vernunfterkenntnis schwer zu retten und eine klare, bestimmte, logisch durchführbare Abmarkung zwischen Glaube und Wissen schlechterdings unmöglich. Das zeigt sich dann in hervorragendem Grade bei Roger Bacon (1210-1294), der nicht bloß seine experimentellen Erkenntnisse auf eine mystische göttliche Erleuchtung zurückführte, sondern der Menschenvernunft als solcher jedes selbständige Wissen absprach, und die Heilige Schrift als einzige Quelle alles menschlichen Wissens proklamierte.

Es ist wohl eine starke Ironie des Schicksals, daß der vorgebliche Begründer des modernen experimentellen Wissens dem menschlichen Wissen im Prinzip jede Berechtigung abgesprochen hat.

Logisch gelangte dann derselbe Bacon zu einer absolut einseitigen Auffassung des Verhältnisses von Kirche und Staat. Weil es nur göttliche Erkenntnisse gibt, gibt es auch nur göttliche Rechte, — das Naturrecht und Zivilrecht werden wie die Philosophie auf die Heilige Schrift zurückgeführt — , und daher besitzt der Papst als Haupt der Kirche über Staat, Fürsten, Kaiser, in jeder Hinsicht die absolute Autorität. Es gibt keine dem Staate als solche eigene Rechte. Wie hier die Vernunfterkenntnis in der Glaubenserkenntnis aufgeht, so verschlingt die Kirche den Staat. Es ist das eine Theorie, die jener eines Marsilius von Padua und Okkam diametral entgegengesetzt ist. Wie bedeutungsvoll das ist, leuchtet sofort ein, wenn wir uns daran erinnern, daß in der Geschichte extreme Ansichten zumeist die entgegengesetzten extremen Ansichten ins Leben rufen.

Wer dagegen einseitig und ausschließlich nur die Rechte der Vernunft betonte, mußte dem Rationalismus verfallen, weil er die Rechte des christlichen Glaubens antastete und zuletzt notgedrungen die christlichen Geheimnisse in Wissen umwandelte. So wollte Raimundus Lullus — den Glauben vorausgesetzt — die tiefsten Geheimnisse des Glaubens, die Trinität, Erbsünde u. s. w. durch die bloße Vernunft beweisen, und auch Heinrich von Gent (1217-1293) hielt es für möglich, Glaubensartikel apodiktisch zu beweisen. Beide sind von den Viktorinern beeinflußt, und ihr theosophischer Rationalismus hat später auf die Mystiker, speziell auf Raymundus von Sabunde (+ 1432) und Nicolaus von Cusa (1401-1464) eingewirkt.

Beide erwähnten Lösungsversuche — der fideistische und rationalistische — , beruhten auf einer Vermengung und Identifizierung von Glaube und Wissen.

Den einen — Fideisten — schwebte der Gedanke vor: Glaube und Wissen harmonieren, weil alles, was die Vernunft erkennt, schon in der Heiligen Schrift enthalten ist; die andern — Rationalisten — wurden von der schon den Gnostikern und Arabern bekannten fatalen Überzeugung verleitet: Glaube und Wissen harmonieren, weil das, was in der Heiligen Schrift enthalten ist, — sogar die Geheimnisse, wenigstens in Bezug auf die Existenz — , auch durch die Vernunft beweisbar ist. Und da bei diesen Lösungsversuchen jeweilen eines von Beiden, entweder die Selbständigkeit des Glaubens, oder jene des Vernunftwissens geopfert werden mußte, lag der Gedanke, den das 14. Jahrhundert verteidigte : Glaube und Wissen sind überhaupt unvereinbar, sie stehen im notwendigen Gegensatze, — duplex veritas— , nicht mehr ferne. Hafner hat daher unseres Erachtens tief geblickt, als er die Vermengung von Glaube und Wissen zu den Ursachen des Niederganges der Scholastik rechnete.

Alles das erklärt es uns, warum Thomas von Aquin (+ 1274), im Gegensatze zu den meisten seiner Zeitgenossen, zum Teile sogar zu Albertus Magnus, die Harmonie von Glaube und Wissen auf die scharfe Unterscheidung beider aufbaute. Verschiedenes kann nur auf Grund der Unterscheidung und ängstlicher Respektierung des Verschiedenen, in Harmonie gebracht werden. Das war sein Grundsatz, den schon Aristoteles in seiner Staatslehre so scharf durchgeführt hatte. Was Glaubenssatz ist, kann daher nie bewiesen werden, und was beweisbar ist, nie ein Glaubenssatz sein. Beide, Glaube und Wissen, unterscheiden sich scharf durch ihr formelles Objekt. Beide unterscheiden sich aber auch ebenso scharf durch ihren verschiedenen Ursprung.

Hier setzt Thomas für den Ursprung aller natürlichen Erkenntnisse an Stelle der platonischen Illumination die abstractio ex rebus sensilibus. Damit gründete er alle natürlichen Wissenschaften auf die äußere und innere sinnliche Erfahrung, und es gelang ihm damit zugleich, eine Grenzlinie zu ziehen für die Vernunft gegenüber den Glaubensgeheimnissen, die deshalb nicht beweisbar sind, weil die äußere abstraktiv erkannte Natur für sie keinen genügenden Anhaltspunkt bietet. Damit war auch die scharfe Unterscheidung zwischen Philosophie und sacra Theologia gegeben, weil die erstere als Unterlage an sich evidente Vernunftprinzipien besitzt, die letztere aber von den geoffenbarten Glaubensartikeln ausgeht. Und da nun in der abstraktiv-metaphysisch aufgebauten wissenschaftlichen Synthese die Teilwissenschaften stufenweise je nach ihren verschiedenen Objekten ihr eigenes Gebiet und ihre eigenen Rechte besitzen, teleologisch aber den höheren wieder untergeordnet werden, besitzt die Philosophie, überhaupt das natürliche Wissen, zwar ihr eigenes Gebiet, verhält sich aber zur höheren Theologie potentiell und ist ihr daher in der Gesamtsynthese untergeordnet, wie die Natur der Übernatur. Und ebenso hat der Staat nach diesen Prinzipien zwar sein eigenes Gebiet, seine eigene Rechtsphäre in Bezug auf das zeitliche Wohl der Bürger, ist aber, weil und insofern das Zeitliche dem Jenseits gegenüber potenziell sich verhält, der Kirche in spiritualibus untergeordnet.

So bestehen Selbständigkeit und Unterordnung von Glaube und Wissen, Philosophie und Theologie, Natur und Übernatur, Staat und Kirche nebeneinander. Das ist die Harmonie von Glaube und Wissen bei Thomas, auf Grund ihrer scharfen Unterscheidung.

Es leuchtet ein, daß die Frage über das Verhältnis von Glaube und Wissen für das Mittelalter nicht bloß eine religiöse war, wie einige behaupten, sondern eine eminent wissenschaftliche, weil das Wohl und Weh der Wissenschaft von ihrer verschiedenen Lösung abhängig war! …“

Gallus Manser, Exzerpt aus „Die Geisteskrise des XIV. Jahrhunderts„, Vortrag gehalten am 16.11.1914

PH - 2016-09-29


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Dieser Artikel wurde veröffentlicht am 25. September 2016 auf www.intrinsis.de unter ../START.html/2016/09/25/glauben-oder-wissen/

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