Vom wesentlichen Unterschied zwischen Nationalismus und Vaterlandsliebe

oder

Fürbitte für das Gastland zeitigt als Frucht Heimkehr ins Vaterland

„… Dies sind die Worte des Briefs, den Jeremia, der Prophet, von Jeruschalajim schickte an die übrigen Ältesten der Vertriebenen und an die Priester, an die Propheten und an das ganze Volk, das Newuchadnezar von Jeruschalajim nach Bawel geführt: „Also hat HaSchem Zewaot G+tt Jisraels gesprochen zu allen Vertriebenen, die Ich von Jeruschalajim nach Bawel geführt: Bauet Häuser und lasset euch nieder, und pflanzet Gärten und geniesset ihre Frucht; nehmet Frauen, und zeuget Söhne und Töchter, und nehmet für eure Söhne Frauen und euren Töchtern gebet Männer, daß sie Söhne und Töchter gebären, und mehret euch dort und mindert euch nicht; und fördert das Heil der Stadt, dahin Ich euch geführt, und betet für sie zu HaSchem; denn in ihrem Heil soll euch Heil sein“ (Jeremia 29,1). Also forderte G+tt vom vertriebenen Jisrael in Bawel, dort sich bürgerlich niederzulassen, als Bürger und Untertan das Heil des Staates zu fördern, für dessen Wohl zu beten, der es doch gewaltsam in seine Mitte aufgenommen hatte; forderte von jedem Jisrael, sein Heil nur im Heil des Staates zu erblicken, und wie für das eigene, für das Heil des Staates zu wirken und zu beten - und doch nur 70 Jahre sollte Jisrael dort weilen! So hat denn G+tt für alle Folgezeit gewiß Jisraels Pflicht gegen die Länder und Staaten festgestellt, die es ja nicht weggeführt haben, sondern in die es eingewandert ist, in denen es auf nicht im voraus begrenzte Zeit zu weilen angewiesen ist, in deren Land jeder den Boden begrüßt, auf dem er zum Leben erwacht, in deren Fürst, Obrigkeit und Staatswirken jeder die Bedingung seiner zeitlichen Wohlfahrt erblickt, und deren Wohl und Weh Jisrael nun schon Jahrtausende herab geteilt hat. G+tt hat festgestellt: in welchem Land Jisrael weile, als Bürger, als Einwohner, als Schützling, dessen Fürst und Obrigkeit als die Seinigen zu verehren und zu lieben, zu dessen Wohl mit jeder möglichen Kraft beizutragen, und gegen Fürst und Land alle die Pflichten zu erfüllen, die ein Untertan dem Fürsten, die ein Bewohner dem Land, die ein Bürger dem Staat schuldet.

Auch als Jisrael sich noch auf einem Boden vereinigt sah, nannten sie sich deshalb „Am“, ein Volk, weil ein gemeinsamer Boden sie alle trug; denn einzig unter allen Völkern der Erde war der Landesbesitz und die daraus hervorgehende Staatseinrichtung für Jisrael nicht Ziel, sondern Mittel zur besseren Erfüllung seiner Jisraelpflichten; die Tora war nicht des Staates halber, sondern der Staat der Tora halber da, und nur diese einigte die einzelnen zu einem menschengesellschaftlichen Verein, im Innern zu „Am“, eigentlich Gesellschaft, uneigentlich Nation, nach außen zu „Goj“, zu einer Körperschaft, Volk.

Und auch nachdem, von seinem Boden fern, Jisrael seinen äußeren Staatsverband zerrissen sieht, nennen sich die Zerstreuten Jisraels „Am“, eine Nation, nicht im Zurückblick auf einst gemeinschaftlich besessenen Boden, nicht im Hinblick auf die Zukunft, in der uns einst G+tt, wie Sein Wort durch die Propheten uns lehrt, wieder dort vereinigen wird, sondern im Bewusstsein: auch in der Gegenwart gemeinsame Träger einer ewigen Idee, einer ewigen Lebensaufgabe, einer von G+tt gesetzten Lebensbestimmung zu sein, die in Jisrael über dem Staatsleben stand und steht, und die darum den Staatsruin überdauerte. Erfüllt uns Trauer über den Ruin dieses Staates, so trauern wir um die Sünde, die ihn veranlaßt hat, beherzigen das Herbe, das uns in der Wanderschaft getroffen hat, als väterlich eine Besserung erzielende Züchtigung, und trauern um das Mangelhafte der Toraerfüllung, das jener Ruin zur Folge hat. Erheben wir in Gebeten und Wünschen unsere Hoffnung auf die Wiedervereinigung im Land, so geschieht es nicht, um dort als Staat unter Staaten zu glänzen, sondern in der Wiedervereinigung und in dem für die Toraerfüllung gelobten und gewährten und wiedergelobten Land Boden zur volleren Erfüllung unseres geistigen Berufs zu finden.

Aber eben dieser geistig religiöse Beruf verpflichtet uns: so lange G+tt uns nicht hinruft, da, wo Er uns hingewiesen hat, mit Vaterlandsgefühlen zu leben und zu wirken, Körper-, Vermögens- und Geisteskräfte und alles Edle, das im Jisraelwirken liegt, zu vereinigen, um das Heil der Staaten zu fördern, die uns aufgenommen haben; verpflichtet uns: nur der Trauer, den Wünschen und der Hoffnung den Hinblick aufs ferne Land zu gewähren, durch treue Erfüllung aller Jisraelpflichten die Verwirklichung dieser Hoffnung zu erwarten; aber verbietet uns: durch irgendein äußeres Mittel die Wiedervereinigung oder den Besitz des Landes zu erstreben.

Drei Eide, sprechen die Weisen, erlegte G+tt auf, als Er Jisrael in die Wanderung wies:

  1. „daß Jisraels Söhne nie die Wiederherstellung ihres Staates durch sich selbst versuchen sollen,
  2. daß sie nie den Staaten, die sie aufgenommen haben, untreu werden sollen,
  3. daß diese Staaten sie nicht unmäßig unterdrücken sollen.“

Die Erfüllung der ersten beiden Eide bezeugen die Blätter der Geschichte, über die des dritten mögen die Staaten sich selber richten. …“

Samson Raphael Hirsch

PH - 2018-05-13


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Dieser Artikel wurde veröffentlicht am 13. Mai 2018 auf www.intrinsis.de unter ../START.html/2018/05/13/vom-wesentlichen-unterschied-zwischen-nationalismus-und-vaterlandsliebe/

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